Leseprobe »Rot wie die Nacht«
Er in kurzen Hosen, sie in einem flatternden Rock - so spazierten sie am anbrandenden Meer entlang, das ihre blossen Füsse leckte. Sie hinterliessen tiefe Abdrücke im feuchten Sand, der prickelte, die Füsse kühlte und sie bei jedem Tritt massierte. Er ging auf der falschen Seite, so kam es ihm zumindest vor, denn er ging mehr im Meer, sank bei jedem Schritt ein wenig ein, während sie, vom Strand erhöht, an seiner linken Seite trippelte, obwohl sie mit ihren langen Beinen auch so schon ein wenig grösser war und auf diese Weise noch grösser wirkte, so dass sie beinahe auf ihn herabblickte, was auch ihr falsch vorkam, worauf sie die Seiten wechselten. Jetzt, auf der richtigen Seite, hatten sie den falschen Eindruck, gleich gross zu sein, aber dieser Eindruck hatte andererseits auch etwas Richtiges, und so spazierten sie Hand in Hand diesen endlosen Strand entlang, la plage de Paris, hatte ihn der Hotelier stolz genannt, als sie vor einer halben Stunde aufgebrochen waren. Das Ganze war aber nicht nur falsch und richtig zugleich, es hatte auch etwas Befreiendes, denn dieses eine Mal waren sie nicht unter Zeitdruck, wie sonst, wenn Alena nach ihren kurzen Festen gleich wieder ins Studio, an die Uni oder zu den Kindern hetzen musste, damit sie nicht verwahrlosten. Für beide war es ungewohnt, so lange zusammenzusein, und sie genossen es, einmal schweigen zu können und nicht ständig reden und sich alles hastig erzählen zu müssen. Still liessen sie sich den kräftigen Wind um die Ohren schlagen, bestaunten die kreischenden Möwen, die im Aufwind in der Luft stillstanden, und auch selber schienen sie sich nicht zu bewegen, selbst wenn sie sich bewegten. Bunte Drachen flatterten über ihren Köpfen, mächtige Sandburgen trotzten den anbrandenden Wellen, und draussen auf dem Meer schossen Surfer über das gleissende Wasser, alles aber schien wie aus der Zeit gefallen - am Strand von Paris.