Leseprobe »Manhattan Rose«

 

Ich schlenderte durch den Rosengarten und dachte daran, mein Leben über den Haufen zu werfen. Ich schnupperte an First Kiss und träumte davon, ganz neu anzufangen. Tausende von Rosen in allen Farben leuchteten mir entgegen, karminrot, orange, weiß oder auch gelb, und der Wind, der frisch über die Blüten strich, trug ihre Parfums in meine Nase. Ich blieb stehen, kniff die Augen zusammen und malte mir aus, wie es wäre, hier zu arbeiten: Unzählige Büsche, Stöcke, Zier- und Wildrosen blühten um die Wette, lockten Hunderte von Hummeln und Bienen zu ihren Kelchen. In dieser Oase New Yorks Rosen zu ziehen, den Peggy Rockefeller Rose Garden mit zu gestalten, den Wahnsinn dieser Stadt voll auszukosten – bei dem Gedanken begann mein Herz höher zu schlagen und Sprünge zu machen. Aber war das realistisch? Die Einwanderungsbestimmungen, die Lebenskosten, die brutale Konkurrenz, all das sprach dagegen, je im Big Apple Fuß fassen zu können. Und doch stellte ich mir vor, alles hinter mir zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. »Zu protektionistisch, zu hermetisch, zu kapitalistisch«, sagte mein Geschäftspartner Nico immer, wenn es um den Handel mit den Vereinigten Staaten ging und um die Hindernisse, die dabei aus dem Weg geräumt werden mussten. »Die Alte Welt zählt in der Neuen nichts – es sei denn, man kann sie plündern oder in Dollars verwandeln.«

Ich machte einige Schritte aus einer Laube heraus, passierte Beete mit hybriden Teerosen, mit Grandiflora und Floribunda, gesäumt von Kübeln mit Hochstämmen der Sorte Palmengarten Frankfurt. Über die Steintreppe beim Eingang verließ ich den Rosengarten Richtung Conservatory. Ich überquerte den Bronx River, der gemächlich dahinfloss, und ging durch den alten Wald, der ursprünglich Manhattan und die umliegenden Gebiete bedeckt hatte. Streifenhörnchen jagten im raschelnden Laub aufgeregt um die Wette, und hoch über mir sprangen Eichhörnchen von Ast zu Ast. Beim Feuchtgebiet flötete ein knallroter, tropisch anmutender Vogel im sich wiegenden Schilf, aus dem Abenteuergarten drang Lärm von Kindern, und vor einem Teich, dessen Boden mit Münzen übersät war, paradierte ein leuchtend blauer Pfau mit einer mal golden, mal grünlich schimmernden Schleppe. Unter einer riesigen gusseisernen Rolex-Uhr, die Patina angesetzt hatte, stellte er sein Rad auf, rasselte mit den Schwanzfedern und gab einen durchdringenden Schrei von sich. Ich ließ Pfau und Rolex hinter mir, gelangte zu einer Blumenrabatte mit Kamelien, Adonisröschen, Seidelbast und jeder Menge mediterraner Pflanzen, die der Klimaerwärmung wegen mehr und mehr zur heimischen Flora New Yorks gehörten. Ein Busch roter Kreppmyrten wäre hier vor ein paar Jahren noch unmöglich gewesen.

Ein paar Schritte weiter duftete mir der Kräutergarten entgegen, mit Basilikum, Salbei, Minze und Rosmarin. Rund um das Herz aus Buchsbaumhecken wuchsen Dill, Knoblauch und Wicken, und davor standen zwei kugel- rund geschnittene Birnbäumchen. Der Weg führte zum Perennial Garden mit seinen immergrünen Büschen, mit den Schwertlilien, dem Mohn, den Blausternchen und den Weinranken, die sich auf einer Marmorsäule sonnten. Schließlich erreichte ich das Conservatory. Die Kuppel des Glaspalastes ragte rund dreißig Meter in den Himmel, sie war reich verziert und bis ins letzte Detail filigran gestaltet: das größte viktorianische Gewächshaus Amerikas, hatte mir meine Kollegin Natalie enthusiastisch erzählt, ich müsse es unbedingt sehen. Vor einem Jahr war es wegen Renovierung geschlossen gewesen, und ich hatte keinen Blick hineinwerfen können. Jetzt aber war es geöffnet. ENID A. HAUPT conservatory war in großen Lettern über dem gewölbten Portal eingraviert, zu Ehren der Mäzenin, die fünf Millionen Dollar zur Restaurierung des Gewächshauses beigesteuert und den Garten mit weiteren zwanzig Millionen unterstützt hatte, wie auf einer Tafel zu lesen war. Darüber thronte die Jahreszahl MDCCCXCIX, das Jahr, in dem der Crystal Palace aus siebzehntausend Glasscheiben errichtet worden war. Einige der Fensterflügel über der ersten der zwei Kuppeln standen leicht offen, und ich ahnte, dass hier ausgeklügelte Belüftungssysteme den Pflanzen ideale Bedingungen schufen. Stufen führten hoch zu dem Sockel aus Kalkstein, auf dem der Bau ruhte, eine Armada aus Orangen- und Zitronenbäumchen säumte den Eingang, dazu Sonnenblumen in Töpfen. Ich trat ein in diese Welt der Pflanzen, und ein Hochgefühl überkam mich, als ich in der hellen, lichten Rotunde die gewaltigen Palmen der Neuen Welt sah, die sich in einem dunklen Teich spie- gelten. Aber auch die mächtigen Wedel der Palmfarne nahmen mir den Atem, erst recht der gigantische Bananenbaum und die zahllosen Orchideen, welche die Farne und die Palmen umgaben. Ich konnte mich kaum satt sehen an der Schönheit der Pflanzen, an der Pracht des Ortes, blickte immer wieder ungläubig nach oben, zur Decke der doppelten Kuppel, als ob dort das Geheimnis des Zaubers verborgen wäre, und dann wieder auf die Oberfläche des Teiches, an dessen Rand ich mich schließlich niederließ.

Vollkommen glatt war der Stamm der Kubanischen Königspalme, neben der ich saß, der graue Stamm von unten bis oben gleich dick und hell gestreift, nur auf den letzten zwei, drei Metern, dort, wo der Blattschopf fast die Kuppel berührte, war er schmaler und grün. Ich zählte acht Wedel, die zusammen mit den Wedeln der Kokospalmen auf der leicht bewegten Pooloberfläche tanzten, als ich hörte, wie jemand Deutsch sprach.